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Abgesang auf einen Baum

Ich bin traurig

19. November 2001

 
   

Mein Blick schweift über das Gras. Wie frei!
Sie haben ihn gestoßen, an ihm gerüttelt.
Wie frei mein Blick!
Sie haben ihn fast „massakriert“ und umgebracht, indem sie ihn zersägten.
Doch nun – ist meine Sicht frei! Dort, wo gestern noch der Kastanienbaum störte, gerade gestern noch.
Schlank war er, hochgewachsen.
Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war ich noch entzückt. Der wird es weit bringen, habe ich gedacht, wenn die ihn stehenlassen, habe ich gedacht. Sie haben ihn nicht stehen gelassen. Er hätte es auf ein stolzes Alter gebracht.
Schlank war er, hochgewachsen und schön.
Noch jung für eine Eiche. Vielleicht 20 Jahre, vielleicht 30. Vielleicht war es auch eine „sie“, denke ich. Nein, er… Er schoß so in die Höhe wie es die jungen immer tun. Aufwärts, ungestüm, Richtung Zukunft. Keinen Makel hatte er an sich, keine Beulen, keine abgestorbenen Äste. Gleichmäßig teilten sich kronend die Äste und zeigten nach oben, ein Halbstarker, würde man sagen. Fast ein Kind, verglichen damit, wie alt er hätte werden können.
Ich kenne eine Eiche! Vielleicht 400, vielleicht 500 Jahre alt. Ich weiß es nicht: alt jedenfalls! Diese Eiche war geteilt worden, irgendwann. Man konnte auf die mächtige Gabelung klettern. Als Kinder taten wir das oft. Seitdem hat sie sich nicht verändert, diese Eiche. sie ist unglaublich hoch, als ich kleiner war, war sie noch höher gewesen. Aber sie ist immer noch sehr sehr hoch. Zwei Eichhörnchen leben auf ihr und ernähren sich praktisch von ihr. Die Eiche hat große weit ausholende Äste, manche sind abgestorben. Mächtige abgestorbene Äste, die manchmal im Herbst in Teilen herunterfallen. Bei meinen Großeltern ist das. Sie hatten Angst, die Eiche würde ihnen auf das Haus fallen, so wie der Himmel den Galliern auf den Kopf. Der Förster bezeichnete ersteres als so wahrscheinlich wie zweiteres, in dem er kundtut, die Eiche würde sie noch weit überleben.
Die Zeit geht langsamer für diesen Baum.
Es hat einmal ein Wissenschaftler nachgewiesen, daß Pflanzen auch Streß haben können. Allein der Gedanke, einer Pflanze mal eben sämtliche Blätter abreißen zu wollen, erzeugt Streß bei ihr. Doch wer glaubt das schon? Ich. Aber sonst?
Ich bin froh.
Froh, weil ich nicht noch trauriger bin. Meine schlanke, schmale, junge Eiche, deren Stumpf noch von einstiger Existenz zeugt – ich mußte nicht mit ansehen, wie sie abgesägt wurde. Oder sollte man sagen „getötet“? Ich glaube, es hat ihr wehgetan. Egal, was die anderen denken, ich glaube, es hat ihr wehgetan. Und nun tut es mir weh. Einen Abgesang auf einen Baum? Nicht einmal Menschen bekommen manchmal einen würdigen Abschied.
Ich weiß, wer noch trauern wird. Sie werden sich erst wundern und dann werden sie vielleicht etwas schimpfen. Sie werden kurz nachdenken und eine andere Möglichkeit für ihren linken Torpfosten finden, wenn sie wieder zum Fußballspielen kommen, die Kinder. Wie sie letztens noch spielten. Nein, jede Woche kamen sie. Zumindest werden diese Kinder merken, daß der Baum nicht mehr da ist, wen sonst wird das interessieren? Allein die Tatsache, daß jemand bewußt den Verlust bedauert, macht ihn mir sympathisch. Diese Kinder werden es.
Mein junger Freund – er hatte einen Nachbarn. Eine Eßkastanie.
Sie war alt!
Obwohl, wenn man es im Vergleich sieht, dann mag man meinen, sie habe auch noch sehr lange leben können, sei also noch in jungen Jahren. Ja, auch sie steht nicht mehr. Ich hatte sie auf 60 Jahre geschätzt, vielleicht älter.
Sie hatte Charakter! Das spürte man, nein das sah man schon. Mit weit ausholenden Ästen, bereits knapp über dem Boden hingen sie. Sie erinnerten vom Aussehen her an eine kleine Ausgabe der mächtigen Gummibäume in Argentinien. Die Eßkastanie bestand aus einer Krone, sonst nichts. Über dem Boden begann sie bereits und bot auch Kindern die Möglichkeit, direkt die nur leicht stacheligen Früchte im Herbst abzupflücken. Es ist Herbst. Und nicht nur Kinder kamen. Fast jeden Tag suchte irgend jemand die Erde nach den Kastanien ab. Sie war Zielpunkt. Einige wußten, daß es hier etwas zu holen gab. Auch ich hob mir ab und zu eine Kastanie auf, pellte sie aus dem Schutzmantel und aß sie. Die Zeiten sind vorbei. Doch warum sage ich das, es ist doch klar.
Man sollte sich ein wenig trauern lassen. Ich brauche die Melancholie, manchmal.
Nun kommen sie.
Mit dem Bagger.
Und reißen die Wurzel meines jungen Freundes aus der Erde, ein Krater wird bleiben als einziges Indiz für einen Baum, den ich eigentlich mochte. Aber darauf kann natürlich nicht Rücksicht genommen werden. Ein neues Haus muß hier hin. Sie reißen die Wurzelstränge auseinander, ja, hier mußt Du noch mal ran, ruft der eine dem Baggerführer zu und der Stumpf hängt hoch, fast bedrohlich halb über den zwei zuschauenden Bauarbeitern. Der große Bagger, das Tier, trollt sich von dannen mit dem Stumpf auf der Schaufel.
Aus dem Krater ragen die Wurzelenden.
Der eine teilt seinem Nachbarn den Erfolg der Aktion mit oder vielleicht sagt er ihm auch einfach, daß es heute noch regnen soll…
Der Krater wird zugeschoben. Der Bagger schiebt und stampft und was bleibt, ist ein flaches Stück brauner Erde auf einer grünen Wiese. Die letzten Blätter werden verwehen, die Wurzel zu Erde, das Gras wird drüberwachsen oder ein Haus. Seltsam. Die Kinder werden kommen und sie werden nicht einmal mehr den Stumpf finden. Hier, hier muß es gewesen sein, werden sie sagen. Dann werden sie schauen und schauen und ihre Taschen als Tore auf den Rasen legen, wenn er dann noch da ist.
Man lacht sich zu. Alles Routine. Der starke Bagger hat es geschafft. Da steht er, mitten auf dem Rasen und rührt sich nicht. Der Bagger ist nichts ohne den Menschen. Anders herum ist es auch so. Wie hätten sie sich mühen müssen, wäre es Handarbeit gewesen.
Es regnet.
Freie Sicht für mich und die anderen freien Bürger. Ich mag solche abstrakten, pauschalen Ausrufe nicht, doch manchmal drängen sie sich auf.
Ich habe zu tun…
Was für ein unpassender Spruch, auch jetzt.
Ich muß was tun… kann nicht solch lange Zeit an einen Baum vergeben – man hätte es auch einfach hinnehmen können.
Doch es hat mich schon berührt!
Ich denke an das Ende eines Gedichtes, das ich einmal geschrieben habe.
„Berührt die Zeit mich, berührt das Herz den Verstand.
Berührt – lebe ich weiter wie unberührt.“

 
 
 

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